Zum Inhalt springen

Simulationsstudie Auf jeden bestätigten Corona-Fall kommen bis zu zehn unentdeckte

Jeden Tag erfassen Staaten weltweit die Zahl ihrer nachweislich am Coronavirus infizierten Menschen. Dabei ist allen klar: Tatsächlich liegt der Wert viel höher. Forscher wagen nun eine Schätzung.
Temperaturkontrolle auf den Philippinen: Ein Motorradfahrer will wissen, ob er Fieber hat

Temperaturkontrolle auf den Philippinen: Ein Motorradfahrer will wissen, ob er Fieber hat

Foto: Ezra Acayan/ Getty Images

Etwa 200.000 Menschen haben sich weltweit laut der Statistik der Johns-Hopkins-University  bislang nachweislich mit dem Coronavirus infiziert, mehr als 80.000 davon sind wieder gesund, mehr als 7000 sind infolge der Infektion gestorben. So weit die offiziellen Zahlen. Doch Experten wissen: In Wahrheit gibt es viel mehr Fälle.

Wie fast alle Krankheitserreger befällt das Coronavirus Menschen unterschiedlich stark. Nur ein geringer Anteil wird so krank, dass er im Krankenhaus behandelt werden muss. Die restlichen Infizierten entwickeln leichte Symptome oder die Krankheit macht sich überhaupt nicht bemerkbar. So bleibt die Infektion meist unentdeckt. Forscher haben nun analysiert, wie hoch der Anteil dieser Fälle sein könnte. Demnach kommen auf jeden diagnostizierten Fall fünf bis zehn unerkannte.

Mehr als eine Million Fälle weltweit

Bezogen auf die weltweite Statistik bedeutet das: zwischen einer und zwei Millionen Menschen könnten derzeit infiziert sein. Legt man die Fallzahlen des Robert Koch-Instituts  für Deutschland vom Dienstagabend von mehr als 7000 bestätigten Infektionen zugrunde, hätten sich hierzulande bislang zwischen 35.000 und 70.000 Menschen infiziert.

Für die Studie fütterten Jeffrey Shaman von der Columbia University und sein Team ein Pandemie-Simulationsprogramm mit Corona-Infektionsdaten aus China. Der Fokus der Wissenschaftler lag auf dem Zeitraum vom 10. bis 23. Januar 2020, als sich das Virus in dem Land noch ungebremst ausgebreitet hat. Erst anschließend hat die chinesische Führung das öffentliche Leben nach und nach eingeschränkt und umfassend auf Corona-Infektionen getestet.

Großteil der Fälle blieb zu Beginn unentdeckt

Laut der Auswertung wurden zu Beginn der Epidemie in China ungefähr 86 Prozent der Infektionen übersehen, nur 14 Prozent wurden identifiziert, schreiben die Forscher im Fachmagazin "Science" . Auf jeden nachweislich Infizierten kamen also ungefähr sechs unentdeckte Fälle.

Diese hätten die Infektion im Schnitt zwar nur an halb so viele Personen weitergeben wie Patienten mit Symptomen, berichten die Forscher. Kein Wunder, die unentdeckten Fälle hatten oft keinen starken Husten und mussten selten niesen. Trotzdem waren sie der Analyse zufolge für 80 Prozent der dokumentierten Fälle verantwortlich.

Coronavirus, Covid-19, Sars-CoV-2? Was die Bezeichnungen bedeuten.

Coronavirus: Coronaviren sind eine Virusfamilie, zu der auch das derzeit weltweit grassierende Virus Sars-CoV-2 gehört. Da es anfangs keinen Namen trug, sprach man in den ersten Wochen vom "neuartigen Coronavirus".

Sars-CoV-2: Die WHO gab dem neuartigen Coronavirus den Namen "Sars-CoV-2" ("Severe Acute Respiratory Syndrome"-Coronavirus-2). Mit der Bezeichnung ist das Virus gemeint, das Symptome verursachen kann, aber nicht muss.

Covid-19: Die durch Sars-CoV-2 ausgelöste Atemwegskrankheit wurde "Covid-19" (Coronavirus-Disease-2019) genannt. Covid-19-Patienten sind dementsprechend Menschen, die das Virus Sars-CoV-2 in sich tragen und Symptome zeigen.

"Die starke Ausbreitung des Coronavirus in China wurde größtenteils von Personen mit milden oder keinen Symptomen verursacht, die unentdeckt blieben", so Shaman.

Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Während kranke Menschen zu Hause bleiben und den Kontakt zu Mitmenschen meiden, nehmen scheinbar gesunde, aber infizierte Menschen am normalen Alltag teil, solange es keine offiziellen Beschränkungen gibt. Weil sie Kontakt zu vielen Menschen haben, verbreiten sie das Virus in großem Umfang, obwohl sie weniger ansteckend sind.

Damit sind unentdeckt Infizierte Fluch und Segen zugleich: Letztlich hilft jede Infektion mit mildem Verlauf, die Pandemie aufzuhalten, weil anschließend eine Person mehr immun ist (mehr zur exponentiellen Ausbreitung lesen Sie hier). Allerdings kann eine Infektion, die bei der einen Person noch ohne Symptome verläuft, beim nächsten Infizierten dramatisch ausgehen.

Den Forschern zufolge beinhalten Analysen zu unerkannt Infizierten immer große Unsicherheiten und variieren von Ort zu Ort. Dennoch gehen die Wissenschaftler davon aus, dass sich die Zahlen grob auf andere Länder übertragen lassen. "In einigen Gesellschaften kommen zu Beginn einer Epidemie vielleicht zehn unentdeckte Fälle auf einen nachgewiesenen, in anderen sind es fünf", sagt Shaman. "Wir können uns über die genaue Zahl streiten." Im Großen und Ganzen laufe es aber auf diese Größenordnung hinaus, darauf deuteten auch andere Studien hin, so der Wissenschaftler.

Tests gegen die Dunkelziffer

"Es ist wichtig, die Bevölkerung breit auf die Infektion zu testen", sagte Elizabeth Halloran von der University of Washington, die nicht an der Studie beteiligt war, auf einer Pressekonferenz zu der Arbeit. Solche Tests könnten verhindern, dass eine große Anzahl von unentdeckt Infizierten das Virus unbemerkt verbreitet.

Das zeigt auch die Analyse aus China. So haben Shaman und Kollegen auch geprüft, wie sich die Zahl der unentdeckt Infizierten dort nach dem 23. Januar bis zum 8. März verändert hat. In dieser Zeit wurden Reisebeschränkungen eingeführt und Corona-Tests wurden besser zugänglich. Das Ergebnis: Der Anteil unentdeckt Infizierter sank von 86 auf 40 Prozent.

Oder andersherum: 60 Prozent der Fälle waren nun bekannt. Auf einen nachweislich Infizierten kam also nicht einmal mehr ein unentdeckter Fall.

Großflächig zu testen ist allerdings leichter gesagt als getan. Dafür sind Ressourcen nötig, die in der aktuellen Krise rar sind. Für Tests braucht man Personal, Testmaterial und Schutzkleidung. Zu Beginn der Ausbrüche in verschiedenen Ländern haben sich die Behörden deshalb darauf konzentriert, die bekannten Infektionsketten zu verfolgen und einzudämmen. Es brauchte Zeit, bis großangelegte Tests möglich waren.

Inzwischen wurde auch in Deutschland das öffentliche Leben massiv eingeschränkt, um die Zahl der nachgewiesenen Neuinfektionen zu reduzieren. Schulen, Kitas und Universitäten sind für mehrere Wochen geschlossen, viele Beschäftigte haben ihren Arbeitsplatz nach Hause verlegt und Grenzen werden geschlossen.

Sind 60 bis 70 Prozent infiziert, endet die Pandemie

Großflächig angelegte Tests gibt es bislang allerdings nicht. Personen, die für eine Corona-Infektion typische Symptome haben, aber nicht in einem Risikogebiet waren und keinen Kontakt zu einem nachweislich Infizierten hatten, werden derzeit nicht getestet.

Das stärkere Bewusstsein für die Pandemie und die Beschränkungen des öffentlichen Lebens hätten dazu beigetragen, die Ausbreitung des Virus etwas zu bremsen, sagt Shaman. "Es ist jedoch unklar, ob diese Verringerung ausreicht, um es vollständig einzudämmen." Wahrscheinlicher erscheint derzeit, dass der Erreger endemisch im Menschen werden wird.

Vorbei ist die Pandemie, solange es kein Medikament und keinen Impfstoff gibt, erst, wenn 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung einmal erkrankt und anschließend immun sind (mehr dazu lesen Sie hier). Das wird Schätzungen zufolge ein bis zwei Jahre dauern.

Entscheidend ist es daher nun vor allem, die Ausbreitung zu verlangsamen, sodass die Kapazitäten des Gesundheitssystems ausreichen, die schweren Fälle zu behandeln.

Anmerkung der Redaktion: Im Artikel wurden zwei Zahlen präzisiert. In China kamen zunächst auf einen entdeckten Fall ungefähr sechs, statt, wie zunächst im Text genannt, sieben unentdeckte Fälle. Später kam auf einen entdeckten Fall nicht mal mehr ein unentdeckter Fall. Zunächst hieß es, es seien weniger als zwei.