Zum Inhalt springen

Veränderte Teststrategie Trügerischer Knick in der Kurve

Weil die Labors überlastet waren, hat das Robert Koch-Institut die Empfehlungen für Coronatests angepasst. Sinken die Zahlen wirklich oder liegt es nur an der neuen Teststrategie?
Schild in Frankfurt am Main (Symbolbild): Wenn weiter alle mit Halsschmerzen und Schnupfen getestet würden, bräuchte man drei Millionen Tests pro Woche

Schild in Frankfurt am Main (Symbolbild): Wenn weiter alle mit Halsschmerzen und Schnupfen getestet würden, bräuchte man drei Millionen Tests pro Woche

Foto: RONALD WITTEK/EPA-EFE/Shutterstock

Maskenpflicht an Schulen, maximal noch zwei Menschen treffen, die nicht zum eigenen Hausstand gehören, Quarantäne für alle mit Schnupfen: Wäre es nach der Bundesregierung gegangen, würden diese Maßnahmen gegen das Coronavirus wohl schon jetzt gelten. Zumindest standen diese Punkte in einer entsprechenden Beschlussvorlage, die am Montag bei den Ministerpräsidenten allerdings krachend durchfiel.

Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben, wie Kanzleramtsminister Helge Braun am Dienstagmorgen im ZDF deutlich machte. Die vom Bund angedachten Verschärfungen für mehr Kontaktbeschränkungen und mehr Infektionsschutz an Schulen sollen kommende Woche erneut zur Verhandlung kommen, so der CDU-Politiker.

Nur ein deutlicher Rückgang bei den Infektionszahlen könnte härtere Maßnahmen vielleicht noch verhindern. Tatsächlich deutet sich derzeit ein verringertes Wachstum, ein Abflachen der Kurve bei den täglichen Fallzahlen an. Doch ist das tatsächlich ein Erfolg der bereits beschlossenen Maßnahmen – oder verharmlost ausgerechnet jetzt eine veränderte Teststrategie das Infektionsgeschehen?

Labors an der Belastungsgrenze

Vor gut zwei Wochen musste das Robert Koch-Institut (RKI) die Empfehlungen anpassen, wer noch getestet werden soll. Der Schritt war nötig, da immer mehr Labors an die Belastungsgrenze gerieten. Reagenzien wurden knapp, die Wartezeit auf Testergebnisse dehnte sich immer länger – fatal für Menschen mit Symptomen, bei denen der Test über weitere Therapien entscheidet.

Zuvor waren Ärztinnen und Ärzte angehalten, auch bei milderen und unspezifischen Symptomen zu testen, die auf Covid-19 hindeuten. In Bayern können sich alle Menschen kostenlos testen lassen.

In der Erkältungssaison im Herbst und Winter alle Menschen mit Schnupfen und Halsschmerzen testen zu wollen, wäre dagegen utopisch. Laut RKI müssten dann pro Woche bis zu drei Millionen Erwachsene und Kinder getestet werden. »Das ist weder möglich noch erforderlich«, sagte RKI-Vize Lars Schaade nach Veröffentlichung der neuen Regeln am 3. November. Realistisch schafft der Großteil der Labors in Deutschland zusammen ohnehin aktuell maximal 1,6 Millionen Tests pro Woche. Antigenschnelltests könnten einen Teil der Lücke schließen, doch für eine sichere Diagnose braucht es weiterhin einen PCR-Test.

Wann noch getestet werden soll:
  • Bei schweren Symptomen wie Lungenentzündung, Bronchitis oder Atemnot

  • Bei Störungen des Geruchs- oder Geschmackssinns

  • Ungeklärte Symptome nach einem Kontakt der Kategorie 1 zu einem Covid-19-Fall

  • Wer zur Risikogruppe gehört, im medizinischen Bereich arbeitet oder Kontakt zu vielen Menschen hat, soll weiterhin bei Anzeichen getestet werden, die auf eine Atemwegserkrankung hindeuten – egal wie schwerwiegend die Symptome sind. Das gilt auch für alle, die sich möglicherweise innerhalb eines größeren Clusters angesteckt haben. (Die genauen Regeln lesen Sie hier .)

»Wir wünschen uns ja, dass unsere Empfehlungen umgesetzt werden«

Die Anpassung der Teststrategie war in Anbetracht der Kapazitätsgrenzen wahrscheinlich unausweichlich (einige Experten forderten sie bereits im August). Trotzdem dürften dadurch nun mehr Fälle unentdeckt bleiben. Das ist auch dem RKI bewusst.

»Selbstverständlich wird das einen Einfluss haben, wir wünschen uns ja, dass unsere Empfehlungen umgesetzt werden«, sagte RKI-Chef Lothar Wieler am vergangenen Donnerstag über die angepasste Teststrategie. Wie genau sich diese auf die Meldezahlen auswirken wird, lässt sich laut Wieler jedoch noch nicht abschätzen, weil zwischen Infektion, Test und Meldung der Testergebnisse an das RKI etwa eine Woche vergeht.

Schon jetzt macht sich die neue Teststrategie bei den Laborzahlen bemerkbar. Auch die »taz«  hatte darüber berichtet. Laut dem Verband Akkreditierte Labore in der Medizin (ALM) wurden in der vergangenen Woche 1,26 Millionen PCR-Tests durchgeführt, gut 200.000 weniger als in der Woche zuvor. Die Labors seien dadurch nicht mehr zwischen 97 beziehungsweise 100 Prozent ausgelastet, sondern nur noch zu 81 Prozent, so der Verband. Dennoch arbeite man nach wie vor am Limit, aber derzeit zumindest nicht mehr darüber hinaus.

Das Problem: Die neue Teststrategie könnte gleich zwei entscheidende Werte beeinflussen, die für die Bewertung der Pandemie wichtig sind:

  • Die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen pro Tag – denn wer weniger testet, findet wahrscheinlich auch weniger Fälle.

  • Weil nun vor allem bei eindeutigen Covid-19-Symptomen getestet werden soll, steigt auch der Anteil positiver Tests. Zuletzt waren 7,88 Prozent der PCR-Tests positiv. Anfang Oktober waren es noch 2,49 Prozent.

Welche Werte nun noch verlässlich sind

Durch die neue Teststrategie ließen sich die Werte nicht mehr mit denen der vergangenen Monate vergleichen, sagte auch der Bonner Virologe Hendrik Streeck der Deutschen Presse-Agentur (dpa). »Allein dadurch – ohne Shutdown light – würde man wahrscheinlich bereits einen Rückgang der Neuinfektionszahlen erwarten, wenn diese Testempfehlungen sich durchsetzt.«

Mit Unsicherheiten muss Deutschland schon seit Beginn der Pandemie leben. Es ist nicht das erste Mal, dass das RKI die Empfehlungen für Tests anpassen muss. Zudem bestimmten Politiker immer wieder neu, wer mit Priorität getestet werden soll, Stichwort Reiserückkehrer. Nun fallen die Auswirkungen der angepassten Teststrategie ausgerechnet in die Zeit, in der über neue Beschränkungen diskutiert wird.

Eine Simulation des Science Media Center  zeigt, wie sich die geänderte Teststrategie auf die Fallzahlen auswirken könnte. In der linken Abbildung ist zu sehen, wie die Infektionskurve verlaufen würde, wenn die Zahl der Neuinfektionen pro Woche um 40 Prozent zunimmt und die alte Teststrategie noch gelten würde (grüne Kurve).

Wenn durch ein geändertes Testregime nun nur noch 80 von 100 Fällen erkannt werden, sinkt auch die Zahl der neu gemeldeten Infektionen pro Tag. Je nachdem ob die neue Strategie abrupt (blau) oder zeitverzögert (lila) umgesetzt wird, macht sich der Einfluss auf die Zahlen früher oder später bemerkbar – sie fallen insgesamt geringer aus.

Das Modell zeigt, wie sich die geänderte Teststrategie auf die täglich gemeldeten Fallzahlen (links) und das Wachstum (rechts) auswirken könnte. Grün: ohne neue Teststrategie, Blau: Neue Teststrategie wird sofort umgesetzt, Lila: Neue Strategie wird allmählich umgesetzt.

Das Modell zeigt, wie sich die geänderte Teststrategie auf die täglich gemeldeten Fallzahlen (links) und das Wachstum (rechts) auswirken könnte. Grün: ohne neue Teststrategie, Blau: Neue Teststrategie wird sofort umgesetzt, Lila: Neue Strategie wird allmählich umgesetzt.

Foto: Science Media Center

Inwieweit das Modell der Realität entspricht, lässt sich nur schwer beziffern. Dass die gemeldeten Fallzahlen nun proportional zu der geringeren Testmenge zurückgehen und die Lage grob verharmlosen, ist aber unwahrscheinlich, weil nun vor allem zielgerichtet bei spezifischen Symptomen auf Covid-19 getestet wird. Deshalb besteht die Hoffnung, dass noch immer ein vergleichbar großer Teil der Infektionen erfasst wird und vor allem solche Tests wegfallen, die mit großer Wahrscheinlichkeit ohnehin negativ ausgefallen wären.

Warum sich Verdachtsfälle im Winter wahrscheinlich gedulden müssen

Zudem war die Zahl der pro Tag gemeldeten Neuinfektionen schon vor den neuen Testempfehlungen weniger stark gewachsen, auch der R-Wert war gesunken – ein Indiz, dass der aktuelle Rückgang bei den Fallzahlen nicht allein auf die neue Teststrategie zurückgeht. Dennoch: Wenn weniger Fälle nachgewiesen werden, hätte das einen direkten Einfluss auf die Inzidenzwerte, die häufig bei Entscheidungen über weitere Maßnahmen herangezogen werden. Das zeigt einmal mehr die Schwäche des Parameters. (Mehr dazu lesen Sie hier.)

Warum die Dunkelziffer wahrscheinlich schon vor neuer Teststrategie zugenommen hat

Völlig blind tappen Politiker und Experten dennoch nicht durch die Pandemie. Das zeigt auch die Simulation des Science Media Centers. Zwar kann sich die Zahl der täglich gemeldeten Neuinfektionen durch die angepasste Teststrategie verändern. Vergleicht man dagegen das Wachstum – also wie schnell die Fallzahlen im Vergleich zur Vorwoche steigen –, macht sich der Effekt nur für kurze Zeit bemerkbar, wie rechts in der Grafik zu sehen. Weil die Werte wochenweise verglichen werden, sollte sich der Einfluss der neuen Teststrategie beim Wachstum also binnen sieben Tagen auswaschen.

RKI-Chef Wieler geht zudem davon aus, dass die Dunkelziffer schon vor der neuen Teststrategie zugenommen hat, weil die Labors an ihrer Kapazitätsgrenze angekommen waren. Mehrere Antikörperstudien gehen davon aus, dass die Dunkelziffer im Frühjahr beim Vierfachen der tatsächlich bekannten Infektionen lag.

Corona-Leugner führen das immer wieder als Argument an, die seitdem gestiegene Testkapazität leuchte diese Dunkelziffer nur aus und dramatisiere die Situation. Doch das ist in dieser Einfachheit falsch. Denn bei einem Parameter ist kaum eine Dunkelziffer zu erwarten: Wer sehr schwer an Covid-19 erkrankt, muss auf die Intensivstation. Solche Fälle können kaum unentdeckt bleiben. Und die Zahl der Intensivpatienten hat einen neuen Höchststand erreicht, auch die Zahl der Todesfälle steigt rasant. Allein am Mittwoch meldete das RKI 305 Covid-19-Tote, am vorherigen Mittwoch waren es noch 261.

Das RKI stimmt bereits auf einen Winter ein, in dem Verdachtsfälle auf Tests werden warten müssen. »Es ist vor dem Hintergrund der derzeit begrenzten Testkapazitäten und der Häufigkeit von Erkältungskrankheiten in den Wintermonaten nicht möglich, alle Covid-19-Erkrankungen in Deutschland durch Tests zu bestätigen«, heißt es auf der Website des RKI . Ein Teil der Infektionen bleibe weiterhin unerkannt und finde keinen Eingang in das Meldesystem. Das RKI rät deshalb jedem mit »jeglicher respiratorischer Symptomatik«, sich mindestens für fünf Tage zu Hause zu isolieren und erst wieder das Haus zu verlassen, wenn man 48 Stunden beschwerdefrei war.